Professor Dr. Rudolf Wendt
Vortrag:
Grundfragen der
Familienbesteuerung
Meine Damen und Herren,
gestatten Sie mir zunächst eine
terminologische Vorbemerkung zum Thema meines Vortrags. Ich möchte dem Vorwurf
entgegentreten, ich hätte einen Gegenstand zum Thema meines Vortrags gemacht,
der in Wahrheit im geltenden Recht gar nicht existiere. Richtig ist natürlich,
daß im derzeitigen deutschen Steuerrecht eine Besteuerung der Familie als
solcher gerade nicht stattfindet. Die Familie, verstanden als Gemeinschaft
von Eltern und Kindern, idealiter: als auf eine Ehe gegründete
Gemeinschaft von Eltern und Kindern, ist nicht steuerpflichtig. Nicht
einmal eine Haushaltsbesteuerung existiert. Wir alle wissen, daß unser
Einkommensteuersystem vielmehr dem Prinzip der Individualbesteuerung
folgt, auch für den Bereich der Familie. Legen Sie also bitte den Begriff der
Familienbesteuerung nicht auf die Goldwaage, denken Sie sich ihn meinetwegen
als mit Anführungszeichen versehen.
Wenn Sie mich näher kennten, wüßten Sie, daß
mir solche Begriffsunschärfen nicht liegen. Doch fällt es schwer, eine kurze
und prägnante Bezeichnung für das, worüber ich sprechen will, zu finden. Auf
keinen Fall würde ich die Bezeichnung "Familienlastenausgleich" oder
"Kinderlastenausgleich" akzeptieren. Derartiges erinnert zu sehr an
den Lastenausgleich zur Überwindung von Kriegsfolgelasten oder der Lasten eines
zusammengebrochenen Wirtschaftssystems, erinnert also an eine subventionsrechtliche
Hilfe bei besonderem, individuell als schicksalhaft erlebtem Unglück. Wenn wir
solche Bezeichnungen zulassen, bekommt das Thema von vornherein eine unrettbare
Schieflage. Aus der Familie wird eine "Last", dazu noch eine
selbstverschuldete. Ist man einmal so weit, gerät die Familie zum Sozialfall,
wird sie zum subventionsähnlichen Ausgleichstatbestand, zum Bittsteller
gegenüber Staat und Gesellschaft, dessen Ansprüche man je nach dem Zustand der
öffentlichen Kassen befriedigen oder zurückweisen kann. Die eigentliche Frage,
nämlich die, wie man dem Willen zur Finanzierung der Familie aus eigener Kraft
steuerlich gerecht werden kann, gerät dabei aus dem Blickfeld. Ich will nicht
verhehlen, daß ich finde, daß die öffentliche Diskussion längst an diesem Punkt
angelangt ist.
Der Sache nach geht es mir um eine ehe-,
familien- und nicht zuletzt kindergerechte Gestaltung des
Einkommensteuerrechts, insbesondere um die steuerliche Berücksichtigung des
existentiellen Bedarfs der Familienmitglieder und der innerhalb der Familie zu
erbringenden Unterhaltsleistungen. Daß ich mit diesem Thema angesichts einer
über Jahrzehnte geführten Diskussion nicht gerade jungfräulichen Boden
beackere, ist mir - und sicherlich auch Ihnen - klar. Es geht mir aber auch
nicht etwa darum, Ihnen ein völlig neues Besteuerungsmodell vorzustellen.
Dieses Geschäft wird gegenwärtig im Übermaß von anderen besorgt: den mehr oder
weniger berufenen Politikern jedweder Couleur, die dem staunenden Publikum alle
paar Tage ein neues Modell des sogen. Familienlastenausgleichs präsentieren.
Dabei liegt der Akzent einmal mehr auf Steuererleichterungen, einmal mehr auf
der Anhebung des Kindergeldes. Gegenwärtig hat man - die Wahlen in Hessen und
Nordrhein-Westfalen lassen grüßen - eher die Spendierhosen angezogen. Die
CDU-Sozialausschüsse wollen Familien mit Kindern einen warmen Platzregen durch
eine Vervielfachung des Kindergeldes bescheren und lassen die Sozialdemokraten
mit ihrem Satz von 250 DM pro Kind alt aussehen. Der Bundesfinanzminister ist
die Rolle des oft gescholtenen Verwalters leergebrannter Kassen offenbar
gründlich leid, verwandelt sich vom knausrigen Saulus zum spendierfreudigen
Paulus und will fürs erste sechs Milliarden Mark für eine Erhöhung des
Kindergeldes locker machen. Zur Finanzierung solcher Wohltaten wird nicht
selten ein Abbau des Ehegatten-Splitting propagiert, während die Grünen - nicht
sonderlich originell - schlicht die "Besserverdienenden" zur Kasse
bitten wollen.
Nahezu jeder tut in Sachen des sogen.
Familienlastenausgleichs so, als gelte es, das Rad neu zu erfinden, als handele
es sich um eine frei gestaltbare, ganz von der politischen Überzeugung
abhängige Materie - wobei eben der vage Begriff
"Familienlastenausgleich" den Politikern suggeriert, sie könnten entsprechend
ihrer politischen Couleur und sozialpolitischen Prägung das Ausmaß der
Familienförderung frei bestimmen. In Wahrheit liegen die Dinge anders. Den
Juristen erstaunt, in welch geringem Maße die Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts zur Familienbesteuerung
- BVerfG 61, 319;
66, 214; 67, 290; 68, 143; 82, 60;
82, 198.
und zur Steuerfreiheit des Existenzminimums
- BVerfG v. 25.
9. 1992, BVerfGE 87, 153.
zur Kenntnis genommen werden. Und werden sie
zur Kenntnis genommen, bedeutet das noch lange nicht, daß sie auch wirklich
beachtet werden. Nur zu oft sind die Politiker von vornherein fest
entschlossen, den Spielraum, den das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber
läßt, bis an die äußersten Grenzen auszuschöpfen. Da ist es nicht
verwunderlich, daß das Bundesverfassungsgericht stets aufs neue durch
Grenzüberschreitungen herausgefordert wird.
Ich möchte mit meinen heutigen Überlegungen
ein wenig dazu beitragen, daß die verfassungsrechtlichen Vorgaben, die das
Bundesverfassungsgericht und die Rechtswissenschaft für die Gesetzgebung im
Laufe der Zeit erarbeitet haben, stärker beachtet werden, als dies bisher der
Fall ist.
Das Prinzip der Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit
Das Verfassungsrecht stellt nach gefestigter
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an die Familienbesteuerung
insbesondere die folgenden zwei Anforderungen:
- die realitätsgerechte, mit dem
Sozialhilferecht abgestimmte Steuerfreiheit des Existenzminimums, und
- die
realitätsgerechte Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen.
Die Steuerfreiheit des Existenzminimums hat
das Bundesverfassungsgericht in den grundlegenden Entscheidungen von 1990
- BVerfGE 82, 60.
und 1992
- BVerfGE 87,
153.
festgeschrieben. Die realitätsgerechte
Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen hat es sehr deutlich bereits in
einem Beschluß vom Februar 1984
- BVerfG vom 22.
2. 1984, BVerfGE 66, 214.
gefordert.
Beides ist in der Tat notwendige Konsequenz
des Prinzips der Besteuerung nach der individuellen finanziellen
Leistungsfähigkeit. Dieses ist verfassungsrechtlich fundiert und beansprucht
durchgehende Geltung im Steuerrecht. Es trägt dem Umstand Rechnung, daß der
Staat bei der Steuererhebung auf das Vermögen zugreift, das der einzelne in
Ausübung seiner grundrechtlichen Erwerbs-, Berufs- und Eigentumsfreiheit
rechtens erworben hat und das gegenüber diesem Zugriff durch die
verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie geschützt ist. Die steuerliche
Belastbarkeit ist an Hand einer Abwägung des eigentumsgrundrechtlich
geschützten Erhaltungsinteresses und des öffentlichen Abschöpfungsinteresses an
einem potentiell beanspruchbaren Einkommensteil zu ermitteln. Eines der ersten
Ergebnisse dieser Abwägung ist, daß das Einkommensteuerrecht nicht das
Roheinkommen belastet, sondern den Abzug der zur Erwerbung des Einkommens
getätigten Aufwendungen zuläßt.
In unserem Zusammenhang geht es nun -
weitergehend - um die Frage des Abzugs der zur Existenzsicherung getätigten
Ausgaben. Insofern ist entscheidend, daß Einkommen erworben wird, um den
individuellen Bedarf des Erwerbenden zu befriedigen. Es hat daher zunächst den
notwendigen Lebensbedarf des Einkommensbeziehers und der ihm gegenüber
Unterhaltsberechtigten zu sichern. Es verstieße gegen die Garantie der Berufs-
und Eigentümerfreiheit, wenn der Staat dem Einkommensbezieher durch Besteuerung
Einkommensteile nähme, die er ihm durch das Sozialrecht zur Sicherung des
existentiellen Bedarfs wieder zurückgeben müßte; ja man wird aus der
Anerkennung der individuellen Leistung als Grundlage des Erwerbens darüber
hinaus folgern müssen, daß der Erwerbende über mehr Einkommen verfügen soll als
derjenige, der auf bedarfsdeckende Leistungen des Staates angewiesen ist. Aus
dem richtig verstandenen Wertungsprinzip der Besteuerung nach der individuellen
Leistungsfähigkeit ergibt sich daher auch, daß der Staat steuerliche Teilhabe
an dem privat erwirtschafteten Einkommen nur beanspruchen kann, soweit die
finanzielle Ausstattung dem Bürger eine Teilabgabe seines Einkommens für
öffentliche Zwecke erlaubt, soweit also das Einkommen für die Steuerzahlung
überhaupt verfügbar ist. In diesem Sinne folgert denn auch das
Bundesverfassungsgericht aus dem Prinzip der Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit, daß auch die außerhalb der Sphäre der Einkommenserzielung -
also im privaten Bereich - anfallenden, für den Steuerpflichtigen
unvermeidbaren Ausgaben einkommensteuerrechtlich beachtet, d. h. in realitätsgerechter
Weise zum Abzug zugelassen werden müssen. Das gilt insbesondere für die
unvermeidbaren privaten Aufwendungen für einen selbst wie für die
Familienangehörigen.
Daß bei der Besteuerung einer Familie das
Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muß, ergibt
sich über die bereits genannten Verfassungsnormen hinaus, d. h. über die
Berufs- und Eigentümerfreiheit hinaus, auch aus dem in Art. 6 Abs. 1 GG
besonders anerkannten Schutz von Ehe und Familie. Das Bundesverfassungsgericht
betont insofern zu Recht, daß die Steuerfreiheit des Existenzminimums für die
Familie unabhängig davon gilt, wie die Besteuerung im einzelnen ausgestaltet
ist und welche Familienmitglieder dabei als Steuerpflichtige herangezogen
werden. Auch wenn, wie es in aller Regel bei Eltern mit noch nicht selbst
verdienenden Kindern der Fall sei, nur einzelne Familienmitglieder ein
Einkommen erzielten und diese auf Grund gesetzlicher Verpflichtung für den
Unterhalt der weiteren Familienmitglieder aufkämen, müsse das Existenzminimum
für die gesamte Familie steuerfrei bleiben. Die Begründung hierfür: Auch in
diesem Fall müsse der Staat, wenn er dem Steuerpflichtigen die Mittel für die
Unterstützung der unterhaltsbedürftigen Familienmitglieder entziehe, diese in
entsprechender Höhe auf Grund seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung aus
dem Sozialstaatsgebot selbst unterstützen. Überlasse er dagegen die
Unterstützung dem Bürger, sei es inkonsequent, diesem die dafür benötigten
Mittel ganz oder teilweise im Wege der Besteuerung mit der Folge zu entziehen,
daß der Staat die Unterstützung des Bedürftigen selbst übernehmen müsse.
Ich schlage vor, die Steuerfreiheit des
individuellen und des familiären Existenzminimums und die realitätsgerechte
Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen nicht weiter in Frage zu
stellen, sondern sie als verfassungsrechtlich begründete Prämissen einer
rechtsstaatlichen, freiheitlichen und sozial gerechten Steuergesetzgebung zu
akzeptieren. Wenn Sie mir darin folgen, müssen wir nach den Konsequenzen dieser
Anforderungen fragen. Der Teufel steckt auch hier im Detail.
Die steuerpolitischen Aufgaben
Diejenigen von Ihnen, die nur ein wenig die
steuerpolitische Diskussion dieser Tage mitverfolgen, wissen, daß die
vorgetragenen Ideen keineswegs lediglich Produkte wissenschaftlichen
Erkenntnisstrebens sind, das sich selbst genügt. Sie haben vielmehr höchst
reale Auswirkungen auf die Politik, können Milliarden-Ströme in Bewegung
setzen, umlenken oder zum Versiegen bringen - dank dem Bundesverfassungsgericht,
das seinen verfassungsrechtlichen Erkenntnissen die Umsetzung in der
praktischen Politik und Gesetzgebung zu sichern vermag. In seinem Urteil vom
25. 9. 1992 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß die Regelung des
Grundfreibetrages in dem seit dem 1. 1. 1990 geltenden Einkommensteuertarif
nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot entspricht, das Existenzminimum von der
Steuer freizustellen. Wegen der Gesamtwirkung des Grundfreibetrags auf den
Tarifverlauf wurde allerdings nicht nur der Grundfreibetrag selbst, sondern der
gesamte in § 32 a Abs. 1 Satz 2 EStG geregelte Tarif für verfassungswidrig
erklärt. Dem Gesetzgeber wurde aufgetragen, spätestens bis zum 1. 1. 1996 eine
Neuregelung zu treffen. Dies ist einer der zentralen Gründe für die
tagespolitische Aktualität unseres Themas.
Die gebotene Neuregelung des individuellen
Existenzminimums zwingt auch zu einem Überdenken der Angemessenheit der
Kinderfreibeträge (§ 32 Abs. 6 EStG) und des Ehegattensplitting (§§ 26 b, 32 a
Abs. 5 EStG), den Instituten, mittels derer heute neben dem Grundfreibetrag der
Unterhaltsbedarf des Steuerpflichtigen und seiner Familie berücksichtigt wird.
Wegen der implizierten Verfassungswidrigkeit des geltenden Lohn- und
Einkommensteuertarifs bzw. weil die Steuerfreiheit des Familienexistenzminimums
sich auch auf die Besteuerung des Einkommens auswirkt, das dieses
Existenzminimum übersteigt, ist auch der Einkommensteuertarif zu überprüfen.
Außerdem und zuallererst erfordert eine auf die tatsächliche Leistungsfähigkeit
abgestellte Besteuerung, die für die individuelle und familiäre
Bedürfnisbefriedigung und die Steuerzahlung verfügbaren Mittel möglichst
lückenlos zu erfassen, d. h. es ist eine möglichst vollständige Erfassung des
erwirtschafteten Einkommens erforderlich. Werden nicht alle Teile des
Markteinkommens berücksichtigt, scheitert der Versuch, das Existenzminimum
realitätsgerecht anzusetzen daran, daß der Pflichtige ärmer erscheint, als er
es tatsächlich ist; das Existenzminimum wird unnötig hoch angesetzt.
Bemessungsgrundlage der
Einkommensteuer und Tarif
Eine vollständigere Erfassung des
Markteinkommens und damit eine Erweiterung der Bemessungsgrundlage der
Einkommensteuer könnte die Steuerausfälle auf Grund der erforderlichen Anhebung
des Grundfreibetrags zum Teil kompensieren. Der Sachverständigenrat meint
sogar, daß hier eine weitgehende Kompensation denkbar sei - und das
immerhin bei angenommenen Steuerausfällen von 40 Mrd. DM. Er weist zunächst
darauf hin, daß bestimmte Arten der Einkommen ganz oder teilweise vom
Gesetzgeber freigestellt werden - so z. B. Zinserträge aus bestimmten
Kapitallebensversicherungen, realisierte Vermögenszuwächse im Bereich der
privaten Haushalte (Einkünfte aus der Veräußerung nichtbetrieblichen
Erwerbsvermögens, nach Ablauf der Spekulationsfristen), bestimmte
Lohnzuschläge. Ein weiterer Teil der Einkommen werde auf Grund von
Steuerhinterziehung nicht deklariert. Darüber hinaus lasse der Gesetzgeber in
großem Ausmaß - meist aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen - Abzüge
bei der Bemessungsgrundlage zu, wie Sonderabschreibungen und Sonderausgaben.
Vom möglichst vollständig ermittelten
Markteinkommen sind die Teile abzuziehen, die für die Steuerzahlung nicht
verfügbar sind und daher keine steuerliche Leistungsfähigkeit beinhalten.
Zuallererst gilt das für die Aufwendungen, die zur Existenzsicherung des
Steuerpflichtigen unabwendbar sind, also vor allem diejenigen für Ernährung,
Kleidung, Wohnung. Diese Aufwendungen wären richtigerweise schon von der
Bemessungsgrundlage auszusondern. Diesem Erfordernis wird bisher bei der
Einkommensbesteuerung nicht entsprochen. Die systematisch richtige Methode
wäre, das Existenzminimum bei der Berechnung des zu versteuernden Einkommens in
Abzug zu bringen. Statt dessen wird ein anderer Weg gewählt: Das
Existenzminimum wird in Form des sogenannten Grundfreibetrages in den Tarif
eingebaut. Die Folge: Die tarifbedingte Steuerbelastung setzt erst nach einer
"Nullzone" ein. Der systematische Fehler, das zu versteuernde Einkommen
um das Existenzminimum überhöht auszuweisen, wird also durch eine fragwürdige
Systemdurchbrechung beim Tarif anzugleichen versucht. Man muß zwar einräumen,
daß bei beiden Arten der Berücksichtigung des Existenzminimums das gleiche
Belastungsergebnis zu erreichen ist. Solange wir aber an diesem Systemfehler
festhalten, gibt es im deutschen Einkommensteuerrecht keinen Einkommensbegriff,
der die Leistungsfähigkeit methodisch richtig erfaßt. Das Fazit ist: Wenn
Fehlinterpretationen durch den Begriff des "zu versteuernden
Einkommens" vermieden werden sollen, ist für die Zukunft auch formal der
Abzug des Existenzminimums von der Bemessungsgrundlage zu fordern, damit die
Meßfunktion der Bemessungsgrundlage und die Belastungsfunktion des Tarifs klar
gegeneinander abgegrenzt werden.
Das Modell des Bundesfinanzministers
zur Freistellung des Existenzminimums
Das von Bundesfinanzminister Theo Waigel zur
Freistellung des Existenzminimums jüngst vorgestellte Modell genügt diesen
steuersystematischen und verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Leitidee
dieses Modells ist, daß ein "Besserverdienender" den Grundfreibetrag
nicht brauche, weil sein Existenzminimum trotz der Besteuerung gewährleistet
bleibe. Das Modell führt einen Entlastungsbetrag ein, der von der Steuer
abgezogen und mit steigendem Einkommen rasch verringert wird. Bei einem
Einkommen von mehr als 30.000 oder - bei Verheirateten - mehr als 60.000 DM
sieht das Modell keinerlei gesonderte Entlastung mehr vor. Allerdings sollen
alle Steuerzahler dadurch eine Entlastung erfahren, daß sämtliche Steuersätze
um 0,7 Prozentpunkte gesenkt werden.
Steuersystematisch würde eine solche
Regelung weit hinter den jetzigen Zustand zurückfallen. Das Modell glaubt sich
jedoch auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1992
berufen zu können, das eine Gestaltung des Einkommensteuertarifs dahingehend
für zulässig hält, "daß die Entlastungswirkung des angemessen
quantifizierten Existenzminimums, das zunächst bei allen Steuerpflichtigen
berücksichtigt wird, schrittweise kompensiert wird".
- BVerfGE 87, 153
(170).
Ich meine, diese Feststellung darf
"verfassungskonform" nur so verstanden werden, daß bei allen
Steuerpflichtigen das Existenzminimum realtitätsgerecht freigestellt wird. Die
hierdurch bei allen Steuerpflichtigen bewirkte Entlastung kann dann
schrittweise neutralisiert oder kompensiert werden durch eine Verschärfung der
Progression, im Extremfall meinetwegen sogar überkompensiert werden bei hohen
Einkommen, wenn der Staat dies Geld benötigt. Unverzichtbares Postulat bleibt
aber, daß das Existenzminimum bei allen Pflichtigen sichtbar vom Steuerzugriff
ausgenommen bleibt. Das ist aber nach dem Modell des Bundesfinanzministers, das
ab einer Einkommenshöhe von 30 bzw. 60.000 DM das gesamte Einkommen der
Tarifbelastung unterwirft, gerade nicht der Fall. Umgekehrt: Auch die
Belastungswirkung des Tarifs für die für eine Steuerzahlung überhaupt zur
Verfügung stehenden Einkommensteile ist nicht ersichtlich. Daher ist dem
Tarif-Gesetzgeber die verfassungsgebotene rationale Abwägung zwischen dem
potentiell beanspruchbaren Einkommensteil und dem fiskalischen
Abschöpfungsinteresse gar nicht möglich. Er kennt den für eine Steuerzahlung
disponiblen Einkommensteil überhaupt nicht. In entlarvender Offenheit preist
das Bundesfinanzministerium gerade an seinem Entwurf, daß, sobald der neue
Tarif erst einmal eingeführt sei, künftige Erhöhungen des steuerlichen
Existenzminimums für die mittleren und höheren Einkommen keinerlei
Entlastungswirkung haben würden. Wie sollte das auch anders sein: Die
"Unrichtigkeit", die "Unwahrheit" der Bemessungsgrundlage
soll ja zum Angelpunkt des neuen Systems der Einkommensbesteuerung werden.
Wegen der erklärten Irrelevanz des Existenzminimums für die mittleren und
höheren Einkommen wäre heute wie künftig nicht gewährleistet, daß in diesen
Bereichen "von den das Existenzminimum übersteigenden Einkommensteilen des
Steuerpflichtigen diesem jeweils angemessene Beträge verblieben" -
eine Forderung immerhin, die das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich
aufstellt, und zwar zu Recht. Das Verfassungsrecht erlaubt hier keine
rein quantitative, sondern verlangt eine qualitative
Betrachtungsweise.
Soweit nach dem Modell eine Freistellung des
Existenzminimums erfolgen soll, wird dies mit ca. 12 bzw. 24.000 DM angesetzt.
Die Bareis-Kommission hatte empfohlen, das Existenzminimum auf 13 bzw. 16.000
DM festzulegen.
Existenzsicherung von Kindern
Auch die Einkommensteile, die zur Existenzsicherung
von Kindern zwangsläufig aufzuwenden sind, sind für die Steuerzahlung nicht
disponibel und daher ebenfalls von der Bemessungsgrundlage auszusondern. Auch
diesen Aufwendungen kann sich der Steuerpflichtige nicht entziehen. Daher ist
ein Steuerpflichtiger mit Kindern unter ansonsten vergleichbaren Verhältnissen
weniger leistungsfähig als ein Steuerpflichtiger ohne Kinder. Auch der
Einkommensmillionär hat Einkommen, das für die Steuerzahlung nicht zur
Verfügung steht. Ein Einkommensmillionär mit Kindern ist weniger leistungsfähig
als ein Einkommensmillionär ohne Kinder. Eine systemgerechte Lösung ist es,
Unterhaltsaufwendungen für Kinder in Form von Freibeträgen bei der Ermittlung
des zu versteuernden Einkommens in Abzug zu bringen. Mit § 32 EStG wird hier vom
Ansatz her der richtige Weg eingeschlagen. Allerdings sind die
Kinderfreibeträge mit 4.104 DM pro Kind zu niedrig bemessen, um die
tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen in realistischer Höhe steuerfrei zu
stellen. Nach Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts (des Bundes der
Steuerzahler) ist der Kinderfreibetrag um etwa 1.800 DM zu niedrig, so daß das
zu versteuernde Einkommen entsprechend überhöht festgesetzt wird. Die daraus
resultierende Überbesteuerung wird durch das Kindergeld keineswegs in allen Fällen
ausgeglichen.
Es fragt sich, ob dieser Mangel durch eine
Erhöhung des Kindergeldes beseitigt werden könnte. Es gibt ja, wie eingangs
geschildert, genügend Stimmen, die für diese Kindergeldlösung plädieren. Und
immerhin können sich diese Stimmen auf die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1990
- BVerfGE 82, 60
(78 f.).
berufen, nach der das Kindergeld die Aufgabe
hat, die steuerliche Mehrbelastung der Familien auszugleichen, solange der
Kinderfreibetrag niedriger festgesetzt ist als das Existenzminimum des Kindes.
Ich will nicht verhehlen, daß mir diese
These der Wahlfreiheit des Gesetzgebers zwischen steuerlicher Verschonung des
Existenzminimums und Gewährung von Kindergeld nicht paßt, ja verfehlt
erscheint. Das Bundesverfassungsgericht bleibt hier zu sehr dem traditionellen
Dualismus von Kinderfreibetrag und Kindergeld verhaftet und wagt nicht, seinen
eigenen Prämissen treu zu bleiben: Die Sozialpflichtigkeit des Erworbenen, die
eine Besteuerung rechtfertigt, beginnt überhaupt erst jenseits des
Existenzminimums. Ein steuerlicher Eingriff in das Existenzminimum kann aus
verfassungsrechtlichen Gründen auch nicht durch kompensatorische Gewährleistung
von Sozialleistungen wie dem Kindergeld aufgefangen und so gerechtfertigt
werden. Es ist mit dem Menschenbild des Grundgesetzes schlechterdings
unvereinbar, wenn dem Bürger die selbst erworbenen Mittel, mit denen er den
notwendigen Lebensunterhalt seiner Familie aus eigener Kraft finanzieren kann
und will, durch Besteuerung entzogen werden und man ihn insoweit auf staatliche
Sozialleistungen verweist, die das durch die Besteuerung Entzogene wieder
ausgleichen.
Aus dem grundlegenden Prinzip der
Menschenwürde in Verbindung mit den Grundrechten auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), auf
Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) und dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1
GG) ergibt sich notwendig ein verfassungsrechtlicher Vorrang des
eigenverantwortlichen Erwerbs vor staatsvermittelter Subsistenz. Der
einzelne Bürger hat das Recht - und zugleich gegenüber der Allgemeinheit die
Pflicht - sich und seine Familie mit eigenen Kräften selbst zu unterhalten,
bevor er soziale Hilfen der Allgemeinheit in Anspruch nimmt bzw. auf sie
verwiesen werden kann. Das im Bereich der Sozialhilfe geltende
Subsidiaritätsprinzip geht demnach auf fundamentale verfassungsrechtliche
Wertungen zurück. Oder ganz simpel: Es ist nicht verfassungskonform, Familien
mit Kindern zunächst so zu besteuern, als hätten sie keine Kinder, um ihnen
nachher als Sozialleistung Kindergeld zu gewähren.
Die Anhebung des steuerlichen
Kinderfreibetrags auf die tatsächliche Höhe des Existenzminimums hat daher
gegenüber einer Erhöhung des Kindergeldes nicht nur steuersystematisch, sondern
auch kraft des Gebots verfassungsgemäßer Besteuerung unbedingten Vorrang. Nur
durch die Anhebung des Freibetrags wird die kindbedingte Minderung der
steuerlichen Leistungsfähigkeit in vollem Umfang bei der Ermittlung der
Bemessungsgrundlage berücksichtigt und das zu versteuernde Einkommen richtig
bestimmt. Der Politik muß diese Sicht der Dinge Schwierigkeiten bereiten; sie
verliert die Möglichkeit, den steuerlichen Kinderfreibetrag als
familienpolitische Transferleistung darzustellen. Nicht einmal als Familienleistungsausgleichsmaßnahme
läßt sich der Freibetrag verkaufen - wenn man unter Familienleistungsausgleich
das verstehen wollte, was der Staat aus Eigenem aufwendet, um die Leistungen
der Familien für Staat und Gesellschaft abzugelten. In Wahrheit ist die Politik
aber besser als ihr Ruf, ist doch in den letzten Jahren der Kinderfreibetrag
Schritt für Schritt erhöht worden.
Bei einem realitätsgerechten
Kinderfreibetrag, für den von den verschiedensten Seiten wenigstens 6.000 DM
angegeben,
- Z. B. der
Finanzexperte der FDP Thiele, vgl. Saarbrücker Zeitung Nr. 21 v. 25. 1.
95, S. 11.
durchaus aber auch 7.000 DM genannt werden,
könnte das Kindergeld auf seine sozialpolitische Funktion beschränkt, d. h. als
Transferleistung auf Bezieher niedrigerer Einkommen beschränkt werden, bei
denen der Steuerfreibetrag keine nennenswerte Entlastungswirkung zeigt.
Umgekehrt: Bei wachsendem Einkommen und steigender Entlastung durch den
Kinderfreibetrag würde eine entsprechende Verminderung des Kindergeldes eintreten.
Ein solches Regel-Ausnahme-Verhältnis von Kinderfreibetrag und Kindergeld würde
im übrigen zur Reduzierung der zu hohen Staatsquote beitragen.
- Zur Verzahnung
von beidem durch Verrechnung des Steuervorteils aus dem Freibetrag mit dem
Kindergeld siehe Thiele, lt. Handelsblatt v. 17. 1. 1995.
Ehegattensplitting
Wenn ich mich jetzt dem Splittingverfahren
bei der Besteuerung von Ehegatten (§§ 26 EStG, 32 a Abs. 5 EStG)
zuwende, tue ich das aus doppeltem Grunde: zum einen, weil heute vielfach an
seiner Berechtigung überhaupt gezweifelt wird, zum anderen, weil man seinen
Abbau jedenfalls zur Finanzierung der anderen familienpolitischen Maßnahmen
fordert.
Bekanntlich führt das Splittingverfahren im
Vergleich zur getrennten Veranlagung in vielen Fällen zu einem anderen
Besteuerungsergebnis. Besonders deutlich ist der Unterschied bei
Alleinverdienern, in denen ein Ehegatte das Gesamteinkommen allein erzielt. Bei
getrennter Veranlagung würde das Einkommen des Alleinverdieners aufgrund des
progressiven Tarifs einem höheren Steuersatz unterworfen, als dies beim
Splitting der Fall ist, bei dem sich der Steuersatz gemäß dem hälftigen
Gesamteinkommen aus dem Einkommensteuertarif ergibt.
Dieser Splittingeffekt wird oft als
Steuervergünstigung eingestuft, durch deren Abbau man ein erhebliches
Finanzierungspotential erschließen zu können glaubt. Entsprechend motivierte
Bestrebungen zur Abschaffung oder jedenfalls Verringerung des Splitting gibt es
sowohl in der SPD als auch in der CDU. Dazu ist zunächst festzustellen, daß die
Steuermehreinnahmen, die man durch den Abbau des Splitting erzielen zu können
glaubt, meist weit überschätzt werden. Vor allem wird aber übersehen, daß das
Ehegatten-Splitting tatsächlich gar keine Steuervergünstigung darstellt, sondern
- sowohl für Ehepaare mit wie für solche ohne Kinder - ein sachgerechtes
Besteuerungsverfahren gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip.
Das Splittingverfahren trägt den
Gegebenheiten, die in Ehen heutzutage typischerweise vorherrschen, in
angemessener Weise Rechnung. Die Ehe ist zu begreifen als eine Lebens- und
Wirtschaftsgemeinschaft gleichberechtigter Partner, in der die Ehegatten das
oder die Einkommen in einen gemeinsamen Topf fließen lassen und in
gleichrangiger Weise am Gesamteinkommen teilhaben. Dieses Ehebild steht auch im
Einklang mit den Grundwertungen des Familienrechts. Die Institute des
Zugewinnausgleichs, des Versorgungsausgleichs und z. B. der gegenseitigen
Verpflichtungsbefugnis (§ 1357 BGB) - sprich Schlüsselgewalt - lassen den
Grundsatz erkennen, daß das während der Ehe Erwirtschaftete gemeinschaftlich
erwirtschaftet ist.
-
BVerfG, BStBl. II 1982, 726.
Bei diesem Ehetypus der Erwerbs- und
Wirtschaftsgemeinschaft mit gleichrangiger Teilhabe am Einkommen wird die
Leistungsfähigkeit der Ehegatten jeweils durch die Hälfte des ehelichen
Gesamteinkommens repräsentiert. Das Leistungsfähigkeitsprinzip verlangt dann
ein Verfahren der Ehegattenbesteuerung, das dieser Einkommenszusammenlegung und
-aufteilung Rechnung trägt. Das geltende Ehegattensplitting stellt ein
entsprechendes Verfahren dar.
Wenn es aber so ist, daß das
Ehegattensplitting für typische Eheverhältnisse ein am Schutzgebot des Art. 6
GG orientiertes, angemessenes Besteuerungsverfahren gemäß dem
Leistungsfähigkeitsprinzip ist, dann sind die sich hieraus ergebenden
Besteuerungsergebnisse keine Steuervergünstigungen, die beliebig zur
Disposition gestellt werden könnten. Von daher ist der Forderung, den
Splittingeffekt bei Beziehern höherer Einkommen zu kappen, eine entschiedene Absage
zu erteilen. Wer den Splittingvorteil kappt, besteuert viele Ehepaare mit einem
Verdiener deutlich höher als Ehepaare und nichteheliche Gemeinschaften mit zwei
Verdienern und vergleichbaren Gesamteinkommen. Auch eine Verringerung des
Splittingdivisors läßt sich nicht überzeugend begründen. Dies hat auch der 57.
Deutsche Juristentag nachdrücklich bekräftigt.
- NJW 1988, 3007:
"Das Ehegattensplitting ist uneingeschränkt beizubehalten. Es stellt keine
Steuervergünstigung dar, sondern beruht auf der verfassungsrechtlichen
Vorzugsstellung der Ehe auch als Erwerbsgemeinschaft vor sonstigen Formen des
gemeinsamen Lebens und entspricht der zivilrechtlichen Ordnung der
überwiegenden Mehrheit der Eheverhältnisse (Zugewinnausgleich,
Versorgungsausgleich)".
Meine Damen und Herren! Wenn es so wäre, daß
die jüngsten Vorschläge zur Kappung des Ehegattensplitting aus SPD und Teilen
der Union lediglich einer Mischung aus fiskalischem Denken und
steuersystematischen Verständnisdefiziten entspränge, wäre das halb so schlimm.
Solche Verständnisdefizite ließen sich mit Überlegungen wie den vorgetragenen
früher oder später beheben. Ich teile diesen Optimismus aber nicht. Wenn man
die genannten Vorschläge im Zusammenhang mit den allgemeinen gesellschafts- und
familienpolitischen Grundüberzeugungen betrachtet, denen einige ihrer Urheber
anhängen, so zeigt sich, daß die Splittingdiskussion über das Steuerrecht
weit hinausweist.
Mit der Infragestellung des
Ehegattensplitting wird weniger der Grundsatz der Besteuerung nach
der Leistungsfähigkeit als solcher in Zweifel gezogen, sondern seine
Prämissen im diskutierten Kontext. In Zweifel gezogen wird vielmehr die
Grundannahme, von der sich der Gesetzgeber bei der Einführung des Splitting im
Jahre 1958 leiten ließ, nämlich die Überzeugung, daß Ehe bzw. Familie auf Grund
ihrer gesellschaftlichen Funktion und ihrer grundgesetzlich verankerten
besonderen Schutzwürdigkeit auch steuerlich als einheitliche Lebens- und
Wirtschaftsgemeinschaft anzusehen sei.
Was das Bundesverfassungsgericht noch 1982
als "wirtschaftliche Realität der intakten Durchschnittsehe"
angesehen hat, nämlich die autonome, arbeitsteilige Aufteilung von Erwerbs- und
anderen Funktionen innerhalb der ehelichen Gemeinschaft, ist 12/13 Jahre später
anscheinend in weiten Kreisen in Mißkredit geraten. Daß es - ungeachtet
zunehmender Versuche gesellschaftlicher Herabqualifizierung durch die Apostel
einer höchst einseitig verstandenen Emanzipation - auch 1994 und 1995 weiterhin
Frauen gibt, die sich die Freiheit nehmen, im Rahmen familiärer Aufgabenteilung
vorwiegend andere Funktionen als diejenigen des Broterwerbs wahrzunehmen, wird
zunehmend als gesellschaftliche Realität minderen Ranges abgetan - getreu der
Devise von Morgensterns "Palmström": "daß nicht sein kann, was
nicht sein darf". So ist es nur konsequent, ein derartiges der Erfüllung
des frauenpolitischen Plansolls im Wege stehendes Verhalten nun auch steuerlich
zu bestrafen. Nichts anderes wäre nämlich das Ergebnis der genannten Vorschläge,
die ja die Kosten des angestrebten sog. "Familienlastenausgleichs"
vorwiegend denjenigen Ehepaaren aufbürden wollen, bei denen ein Ehegatte bisher
dank der Entlastung von anderen Aufgaben durch einen nicht oder nicht voll
erwerbstätigen Ehepartner ein überdurchschnittliches Einkommen erzielt.
Ungeschoren bleiben dagegen diejenigen
Ehepaare und Familien, die sich - häufig unter Forderung nach Schaffung
zusätzlicher Kindergartenplätze durch die Gesamtheit der Steuerzahler - für
eine Berufstätigkeit beider Eheleute entscheiden, jedenfalls soweit beruflicher
Arbeitseinsatz und damit Einkommen beider Eheleute annähernd gleich sind. Wenn
man die ständigen Versuche der politischen Parteien, das Steuerrecht in allen
denkbaren Bereichen als Instrument gesellschaftspolitischer Verhaltenssteuerung
zu gebrauchen und zu mißbrauchen, fällt es schwer, ausgerechnet hier an Zufall
zu glauben.
Wem an der Sicherung der
verfassungsrechtlich verbürgten familiären Entscheidungsfreiheit über die Art
und Weise der innerfamiliären Arbeitsteilung gelegen ist, wem damit an der
Wahrung der Gleichwertigkeit der jeweiligen Leistung - Beruf einerseits und
Haushalt einschließlich Kindererziehung andererseits - liegt, tut gut daran,
die Vorschläge zum Abbau des Ehegattensplitting nicht als fiskalisch motivierte
steuerpolitische Fehlzündungen abzutun, sondern sie als grundgesetzlich
fragwürdige Eingriffe in die Autonomie von Ehe und Familie zurückzuweisen.
Sie mögen mir vorhalten, daß ich hier zum
Opfer einer selbstkonstruierten Verschwörungstheorie werde. Dazu kann ich nur
sagen: Ich würde mich freuen, wenn das so wäre. Ich glaube das aber nicht.
Als Ergebnis meiner Überlegungen möchte ich
also festhalten: Durch das Splittingverfahren wird sichergestellt, daß die
Bemessungsgrundlage in sachgerechter Weise auf die Ehegatten aufgeteilt wird
und damit auch der Tarif seine Belastungsfunktion für jeden einzelnen Ehegatten
und für die Ehegemeinschaft insgesamt erfüllen kann. Als Finanzreserve der
Familienpolitik ist das Ehegattensplitting schlechterdings nicht geeignet.
Allerdings ist damit noch nicht die Frage
beantwortet, in welcher Höhe das Existenzminimum der Ehegatten
bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen ist. Insofern
wird immer wieder darauf hingewiesen, daß es bei zusammenlebenden Ehegatten zur
sogenannten Haushaltsersparnis komme, weil die Kosten zusammenlebender Personen
pro Person gerechnet geringer sind als die Alleinstehender. Daraus wird dann
gefolgert, Ehepaaren dürften nicht zwei volle Grundfreibeträge
zustehen, vielmehr sei der zweite Grundfreibetrag niedriger anzusetzen.
Ich finde, daß das Argument der
Haushaltsersparnis als solches nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist.
Der Bundesfinanzminister denkt offenbar, wie heute berichtet wird, in dieser
Richtung. Und trotzdem sind gegen die Reduzierung des zweiten Grundfreibetrages
schwerwiegende Vorbehalte anzubringen. Zunächst ist einzuwenden, daß es zur
Haushaltsersparnis auch bei Personen kommt, die in nicht-ehelicher (Haushalts-)Gemeinschaft zusammenleben. In solchen Fällen kommt aber nur die
getrennte Veranlagung in Betracht. Daher dürfte es kaum praktikable
Möglichkeiten geben, auch in diesen Fällen die Haushaltsersparnis durch
reduzierte Grundfreibeträge zu berücksichtigen. Ähnliches gilt für Ehepaare,
bei denen beide ein etwa gleich hohes Einkommen beziehen. In solchen Fällen
kommt es durch das Splittingverfahren ja nicht zu einer Verminderung der
Steuerbelastung. Deshalb können sich diese Ehepaare ohne weiteres für die
getrennte Veranlagung entscheiden und sich so ebenfalls die doppelten
Grundfreibeträge sichern. Daher ergäbe sich eine ungerechte und
verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Benachteiligung zusammenveranlagter
Ehegatten, wenn die Haushaltsersparnis nur bei ihnen durch reduzierte
Grundfreibeträge berücksichtigt würde. In diesem Zusammenhang verdient
Beachtung, daß das Bundesverfassungsgericht schon im Jahre 1957 seine Ablehnung
gegen eine steuerliche Berücksichtigung von Haushaltsersparnissen deutlich
gemacht hat. Es hat damals erklärt, daß die Möglichkeit von Einsparungen in der
Lebenshaltung im gesamten übrigen Einkommensteuerrecht als Faktor der
Leistungsfähigkeit nicht berücksichtigt werde; dieser Gesichtspunkt sei also
systemfremd.
-
BVerfG, BStBl. I 1957 S. 199.
Mein Fazit ist also - und das ist keineswegs
nur mein persönliches Credo: Im Interesse einer gerechten Besteuerung gemäß dem
Leistungsfähigkeitsprinzip sollte das Ehegattensplitting bei der anstehenden
Tarifreform ohne Wenn und Aber beibehalten und Ehegatten - wie bisher - ein
doppelter Grundfreibetrag gewährt werden.
Familiensplitting
Meine Damen und Herren, ich bin mir sehr
wohl im klaren darüber, daß ich mich mit meinem Plädoyer in ziemlich
konventionellen Bahnen bewege. Auf ungesichertes Terrain begibt man sich, wenn
man über Konzepte eines Familiensplitting nachdenkt. Diese sind als Idee
nicht neu, die CDU hat sich bis in die jüngste Zeit mehrfach hierzu bekannt;
- Siehe
Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Familiensplitting und einheitliches
Kindergeld, Sonderinformation 21, Mai 1994, S. 6 mit Fn. 21.
sie würden aber eine Neuorientierung der
Familienbesteuerung bedeuten.
Ich möchte zunächst das tarifliche
Familiensplitting und dann das Familienrealsplitting skizzieren.
Bei einem tariflichen Familiensplitting
würden die Familien zusammenveranlagt, und zwar in der Weise, daß entsprechend
der Technik des Ehegattensplitting das Gesamteinkommen der Familie fiktiv auf
die einzelnen Familienmitglieder aufgeteilt würde. Dann würde es dem Tarif
unterworfen, mit der Folge, daß eine mit der Anzahl der Familienmitglieder (und
damit der Höhe des Splittingfaktors) steigende Abmilderung der Progression
stattfände. Problematisch ist die Bestimmung der Splittingfaktoren, die die
Höhe der fiktiven Zurechnung an die Eltern und die Kinder festlegen. Nur ein
Vollsplitting, also ein Splittingfaktor von eins für jedes Familienmitglied
vermeidet bei jeder denkbaren tatsächlichen Einkommensverteilung eine
Benachteiligung der zusammenveranlagten Familie. Wenn andere Splittingfaktoren,
insbesondere geringere für die Kinder, gewählt werden, muß die Möglichkeit
einer getrennten Veranlagung (auf Antrag) offenstehen, um eine Kollision mit
Art. 6 Abs. 1 GG zu vermeiden.
Der Vorschlag eines Familienrealsplitting
hält demgegenüber an der Individualbesteuerung der einzelnen Familienmitglieder
fest. Er überträgt die Grundsätze der §§ 10 Abs. 1 Nr. 1, 22 Abs. 1 Nr. 1 a
EStG für die Besteuerung des Unterhalts an den geschiedenen Ehegatten auf die
Unterhaltsverpflichtungen in der intakten Ehe und Familie. Der
Unterhaltsverpflichtete soll danach die Unterhaltszahlungen bei der Ermittlung
des zu versteuernden Einkommens abziehen, während der Unterhaltsberechtigte sie
zu versteuern hat. Der Höhe nach soll eine Orientierung an den zivilrechtlichen
Unterhaltspflichten stattfinden und die grundsätzlich hälftige Zurechnung bei
Ehegatten beibehalten werden.
Wenn man diese beiden Lösungen vergleicht,
so ist zum tariflichen Familienvollsplitting zu sagen, daß es sich ein
gutes Stück von den zivilrechtlichen Regelungen und der wirtschaftlichen
Realität lösen würde. Es würde die Kinder den Ehegatten gleichstellen, obwohl
die Familie zwar wie die Ehe Erlebnis-, Entfaltungs-, Verantwortlichkeits- und
auch Unterhaltsgemeinschaft ist, aber eben keine Wirtschaftsgemeinschaft im
Sinne einer Erwerbsgemeinschaft. Die Kinder haben nur einen Anspruch auf
angemessenen Unterhalt, bilden aber mit den Eltern keinen Erwerbsverbund. Ab
einer gewissen Höhe wäre die Zurechnung von Einkommen zu den Kindern nicht mehr
wirtschaftlich gerechtfertigt und damit unstreitig keine Konkretisierung des
Leistungsfähigkeitsprinzips mehr, sondern eine reine Förderungsmaßnahme des
Staates. Diese kann nicht uneingeschränkt zulässig sein, da eine Familie mit hohem
Einkommen einen höheren Vorteil durch ein derartiges tarifliches
Familiensplitting hat als eine geringverdienende Familie. Der Wissenschaftliche
Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat aus diesem Grunde bereits 1967
eine Verrringerung der Splittingfaktoren für Kinder ab einer bestimmten
Einkommensgrenze vorgeschlagen.
- Gutachten zur
Reform der direkten Steuern, S. 38; die damit vorgenommene Typisierung würde
die Genauigkeit des Realsplitting jedoch nicht erreichen (Arndt/Schumacher, AöR
118 (1993), 578 f.).
Diese Schwierigkeiten würde das Familienrealsplitting
vermeiden, das die steuerrechtliche Behandlung der Familie von vornherein an
den zivilrechtlichen Regelungen der Unterhaltsverpflichtungen orientiert. Dafür
ergibt sich hier eine andere Hürde. Mit dem Einkommen und dem Status der Eltern
steigen die zivilrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen. Die Orientierung hieran
ist nicht unproblematisch. Das Maß der steuerlichen Entlastung würde letztlich
nach dem sozialen Status der Familie bestimmt.
Es ist die Frage, ob eine mit dem Einkommen
steigende steuerliche Abzugsfähigkeit von Unterhaltszahlungen politisch
durchsetzbar wäre. Begrenzt man aber zum Zwecke besserer Akzeptanz das
Realsplitting durch Höchstbeträge oder setzt man einheitliche Abzugsbeträge
beim Unterhaltsverpflichteten an,
- die der
Unterhaltsberechtigte versteuern muß,
so ist man nicht mehr weit vom System
realitätsgerecht bemessener Kinderfreibeträge entfernt.
Sie sehen, es ist nicht leicht zu entscheiden, ob man einer Beibehaltung des jetzigen Systems der Familienbesteuerung in verbesserter Form oder einer Umstellung auf ein Familiensplitting den Vorzug geben soll. Zu berücksichtigen ist bei dieser Entscheidung, daß unter dem jetzigen System Steuerpflichtige mit frei verfügbarem Einkommen - aber eben nur diese - ohnehin schon durch die Übertragung von Einkunftsquellen auf die Kinder die Wirkung eines Familiensplittings erreichen können. Konkret: Wer Vermögen besitzt oder ein Gewerbe betreibt, kann sich durch vertragliche und legale Aufteilung seines Gesamteinkommens faktisch den Splittingeffekt verschaffen. Hier droht ein Konflikt mit dem Gleichheitssatz. Denn das Postulat gleicher steuerlicher Behandlung gilt natürlich auch im Vergleich zwischen Familien mit geringem und mit großem Kapitalvermögen und zwischen Familien mit einer in Kapitalwerten erfaßten und deshalb übertragbaren Erwerbsgrundlage und mit der in der eigenen Arbeitskraft angelegten und deshalb nicht übertragbaren Erwerbsgrundlage. Die mit der übertragbaren Erwerbsgrundlage eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten legen es nahe, die Teilhabe von Kindern am elterlichen Einkommen im Rahmen von Unterhaltspflichtverhältnissen generell durch ein - eingeschränktes - Familiensplitting zu berücksichtigen. Über dessen genauen Zuschnitt wäre allerdings, wie gesagt, noch näher nachzudenken. Der Stein der Weisen ist hier, wie mir scheint, noch nicht gefunden!